22.10.2024 I Therapie & Beratung I Julia Dresp

Kinder in Not

Psychische Gesundheit im Wandel und der dringende Bedarf an Therapieplätzen

Aktuelle Studien des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen, dass bis zu 30 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland an behandlungsbedürftigen psychischen Störungen leiden.
Unter anderem hat die Corona-Pandemie bei jungen Menschen tiefe Spuren hinterlassen. Die monatelangen Schulschließungen, soziale Isolation, allgemeine Ungewissheit und viel Zeit mit der Familie auf teilweise sehr engem Raum - dabei sind selbst wenig belastete Familien an ihre Grenzen gestoßen. Besonders beunruhigend scheint, dass der Anteil an Angststörungen und depressiven Symptomen seit der Pandemie stark angestiegen ist. Soziale Ängste, Schulvermeidung und depressive Verstimmungen haben sich bei vielen jungen Menschen so stark manifestiert, dass sie ihren Alltag kaum noch bewältigen können.
Diese Entwicklung stellt nicht nur betroffene Familien vor Herausforderungen, sondern auch das Gesundheitssystem – und es mangelt an Therapieplätzen, um diese jungen Menschen angemessen zu versorgen. Mehr als 15.000 Therapieplätze fehlen deutschlandweit, um den tatsächlichen Bedarf zu decken. Das bedeutet, dass viele Kinder und Jugendliche, die dringend psychologische Unterstützung bräuchten, monate- oder sogar jahrelang auf Hilfe warten müssen. Unbehandelte psychische Störungen wie Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen können im Erwachsenenalter zu schwerwiegenden Problemen führen – beruflich, sozial und gesundheitlich.

Die häufigsten Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen

Die psychischen Herausforderungen von Kindern und Jugendlichen sind vielfältig, aber einige Störungsbilder treten besonders häufig auf:

  • Angststörungen: Soziale Ängste, Trennungsangst und Schulangst sind weit verbreitet. Kinder entwickeln Ängste, die sie daran hindern, ein normales soziales Leben zu führen oder die Schule zu besuchen.
  • Depressive Störungen: Jugendliche leiden zunehmend unter depressiven Symptomen wie Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und einer tiefen Hoffnungslosigkeit. Diese Symptome haben sich durch die Isolation in der Pandemie verschlimmert.
  • Essstörungen: Störungen wie Anorexie und Bulimie nehmen besonders bei Jugendlichen zu. Der Druck durch soziale Medien und unrealistische Schönheitsideale spielen dabei eine Rolle.
  • Verhaltensstörungen: Einige Kinder zeigen aggressives oder oppositionelles Verhalten, oft als Ausdruck innerer Konflikte oder Hilflosigkeit, die sie ohne professionelle Hilfe nicht bewältigen können.

Realitätscheck

Da ich aktuell in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin stecke, beschäftigen mich diese Zahlen und Fakten doch sehr. Woran liegt es, dass so viele Kinder und Jugendliche unversorgt bleiben? Kinder und Jugendliche stehen tatsächlich 1,5 Jahre auf Wartelisten, vor allem in ländlichen Gegenden. Selbst als Erwachsene kommt mir diese Zeit extrem lang vor, aber in einem Kinderleben passiert in dieser Zeit noch so viel mehr. 

Vor kurzem war ein 15-jähriger Junge in der Sprechstunde, der unter depressiven Verstimmungen zu leiden schien. Aktuell mag der Junge noch ein Schüler in der 9.Klasse auf einer Realschule sein, aber in den nächsten 1,5 Jahren hätte er einen Schulabschluss zu meistern, Bewerbungsverfahren, muss neue Menschen kennenlernen und sich möglicherweise in einer neuen Klasse in der Berufsschule zurechtfinden. All diese Dinge sind schon ohne psychische Belastungen anstrengend und unbehandelt je nach dem kaum zu bewältigen. 

Das System der Kassensitze in Baden-Württemberg (und allgemein in Deutschland) folgt einer strikten Regulierung durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Verbindung mit dem sogenannten Bedarfsplan. Der Bedarfsplan legt fest, wie viele Psychotherapeut*innen (inklusive Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen) pro Region in einem bestimmten Gebiet zugelassen werden können, um eine „ausreichende“ Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Ein Kassensitz ermöglicht es Therapeut*innen, Leistungen über die gesetzliche Krankenversicherung abzurechnen.

Warum gibt es lange Wartelisten trotz Bedarfsplan?

  • Verzerrte Berechnungen im Bedarfsplan: Der Bedarfsplan basiert auf veralteten Maßstäben und berücksichtigt oft nicht ausreichend den tatsächlichen Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen, insbesondere im Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. So wird die Versorgungsdichte nach starren Quotienten festgelegt (z.B. Anzahl der Therapeut*innen pro 100.000 Einwohner), ohne dynamische Faktoren wie wachsenden Bedarf, soziale Brennpunkte oder veränderte Krankheitsbilder wie steigende psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen.


  • Ungleichverteilung der Therapeut*innen: Obwohl ein Gebiet als „überversorgt“ eingestuft wird, können in bestimmten Stadtteilen oder ländlichen Gebieten trotzdem Engpässe herrschen, weil Therapeut*innen sich eher in Ballungsräumen niederlassen. In ländlichen Gebieten gibt es oft zu wenige Therapeut*innen, während Ballungsräume zwar auf dem Papier genügend Therapeut*innen haben, diese jedoch durch hohe Nachfrage ausgelastet sind.


  • Anstieg psychischer Erkrankungen: In den letzten Jahren ist der Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung erheblich gestiegen, besonders im Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Dies führt zu langen Wartelisten, obwohl die offiziellen Planungszahlen dies nicht ausreichend abbilden.


  • Bürokratische Hürden: Die Vergabe von Kassensitzen erfolgt häufig langsam und ist stark reguliert, was zu Verzögerungen in der Versorgung führen kann. Auch der Prozess zur Erlangung eines Kassensitzes ist langwierig und limitiert die Zahl der neuen Therapeut*innen, die zeitnah tätig werden können.


  • Praxisstruktur und Arbeitsbelastung: Einige Therapeut*innen haben möglicherweise nur Teilzeitkapazitäten oder bieten nicht für alle Altersgruppen oder Krankheitsbilder Therapie an, wodurch trotz einer ausreichenden Anzahl von Therapeut*innen nicht genügend Behandlungsplätze zur Verfügung stehen.


Um als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Baden-Württemberg einen Kassensitz zu bekommen, musst du entweder einen freien Kassensitz übernehmen oder darauf warten, dass ein neuer vergeben wird, was durch den Bedarfsplan der KV reguliert wird. Die scheinbare Überversorgung in einigen Regionen erklärt sich durch unzureichende Planungsgrundlagen und Ungleichverteilungen. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Therapieplätzen, insbesondere für Kinder und Jugendliche, was zu langen Wartezeiten führt.

Ein Appell an die Gesellschaft und Politik

Die Politik muss stärker in die Versorgung von Kindern und Jugendlichen investieren. Dazu gehört die Ausweitung von Ausbildungsplätzen für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, die Vereinfachung der Anerkennungsverfahren für Therapeut*innen, Anpassungen in der Bedarfsplanung sowie spezielle Förderprogramme für psychische Gesundheit in Schulen. Insbesondere Schulen sollten als präventive Plattformen genutzt werden, um jungen Menschen frühzeitig Zugang zu psychologischer Unterstützung zu ermöglichen.

Als Gesellschaft tragen wir die Verantwortung, unseren Kindern den Zugang zu psychischer Gesundheit zu gewährleisten. Sie sollten keine Monate auf Hilfe warten müssen. Sie verdienen es, ihre Kindheit unbeschwert und gesund zu erleben. Es braucht mehr finanzielle Mittel, um Therapieplätze zu schaffen und sicherzustellen, dass jedes Kind die Unterstützung erhält, die es benötigt – unabhängig von seinem familiären oder finanziellen Hintergrund.


05.06.2024 I Therapie & Beratung I Julia Dresp

Häufige Mythen und Missverständnisse über Therapie und Beratung

Immer wieder begegnen mir im Alltag Mythen und Missverständnisse über Therapie und Beratung, die sich hartnäckig in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. 

"Therapie ist nur für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen" oder auch "Therapie ist nur für 'Verrückte'"

Realität: Therapie ist für jeden Menschen geeignet, der Hilfe benötigt, unabhängig von der Schwere der Probleme. Menschen suchen aus verschiedenen Gründen Therapie, wie z.B. bei Stressbewältigung, Beziehungsproblemen, beruflichen Herausforderungen oder persönlicher Weiterentwicklung.

  • Leichte bis mittelschwere Probleme: Menschen nutzen Therapie, um besser mit alltäglichen Herausforderungen umzugehen, wie z.B. Arbeitsstress, familiären Konflikten oder der Suche nach Lebenssinn.
  • Präventive Maßnahmen: Therapie kann auch präventiv eingesetzt werden, um die psychische Gesundheit zu fördern und zu erhalten.

"Therapie ist nur Gespräche und bringt keine echten Ergebnisse"

Realität: Therapie umfasst eine Vielzahl von Techniken und Methoden, die evidenzbasiert sind und nachweislich positive Ergebnisse liefern.

  • Praktische Übungen: Viele Therapeut*innen geben ihren Klient*innen praktische Übungen und Hausaufgaben, um neue Verhaltensweisen und Denkmuster zu erlernen.
  • Messbare Fortschritte: Therapeut*innen verwenden oft Bewertungsinstrumente, um den Fortschritt ihrer Klienten zu messen und anzupassen.

"Wenn ich Therapie brauche, bin ich schwach"

Realität: Therapie zu suchen erfordert Mut und ist ein Zeichen von Stärke und Selbstbewusstsein.

  • Selbstreflexion: Die Entscheidung, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, zeigt, dass man sich seiner Probleme bewusst ist und aktiv daran arbeiten möchte.
  • Stigmatisierung überwinden: Der Schritt zur Therapie kann helfen, das Stigma rund um psychische Gesundheit zu reduzieren und andere zu ermutigen, ebenfalls Hilfe zu suchen.

"Therapeuten sagen einem, was man tun soll"

Realität: Therapeuten bieten keinen direkten Rat oder konkrete Anweisungen. Stattdessen helfen sie, eigene Lösungen zu finden und unterstützen dabei, Gedanken und Gefühle zu verstehen.

  • Klienten-zentrierter Ansatz: Therapeuten arbeiten oft mit einem klientenzentrierten Ansatz, der darauf abzielt, den Klienten in den Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses zu stellen.
  • Empowerment: Ziel der Therapie ist es, den Klienten zu befähigen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und eigenständig Probleme zu lösen.

"Therapie dauert ewig"

Realität: Die Dauer der Therapie variiert stark und hängt von den individuellen Bedürfnissen und Zielen des Klienten ab.

  • Kurzzeittherapie: Viele Probleme können in relativ kurzer Zeit (z.B. 6-12 Sitzungen) wirksam behandelt werden.
  • Langzeittherapie: Bei tieferliegenden oder komplexeren Problemen kann eine längere Therapie sinnvoll sein, aber dies wird immer individuell besprochen und angepasst.

"Man muss ein tiefes Trauma haben, um Therapie zu brauchen" 

Realität: Therapie kann bei einer Vielzahl von Problemen und Lebenssituationen hilfreich sein, nicht nur bei traumatischen Erlebnissen.

  • Alltagsprobleme: Menschen suchen oft Therapie für alltägliche Stressoren, wie berufliche Herausforderungen, familiäre Konflikte oder Beziehungsprobleme.
  • Persönliches Wachstum: Therapie kann auch genutzt werden, um persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung zu fördern.

"Therapie ist nur für Menschen, die keine Freunde oder Familie haben, mit denen sie sprechen können"

Realität: Auch Menschen mit starken sozialen Netzwerken profitieren von der professionellen Unterstützung durch einen Therapeuten.

  • Unabhängigkeit und Neutralität: Therapeuten bieten eine neutrale und unparteiische Perspektive, die sich von der Unterstützung durch Freunde und Familie unterscheidet.
  • Fachliche Kompetenz: Therapeuten haben spezielle Ausbildungen und Kenntnisse, um effektive Methoden zur Problemlösung anzubieten.

"Eine Therapie zu machen, bringt negative berufliche Auswirkungen mit sich"

Realität: Für psychotherapeutische Leistungen, die über die Krankenkasse finanziert werden können, muss der Therapeut oder die Therapeutin eine Diagnose stellen. Ohne Diagnose, können die Therapiestunden nicht bei der Krankenkasse abgerechnet werden. In Privatpraxen (wie bei mir) wird in der Regel ohne Diagnosen gearbeitet, stattdessen müssen die Kosten allerdings selbst getragen werden. Wer keine Mittel zur Verfügung hat, kann auch zunächst eine Beratungsstelle aufsuchen, diese sind ebenfalls kostenfrei und gleichzeitig ohne Diagnoseverfahren. 

  • Öffentlicher Dienst und Beamte: In bestimmten Berufen, insbesondere im öffentlichen Dienst oder bei Beamten, könnte eine Psychotherapie bei einer Verbeamtung oder bei sicherheitsrelevanten Berufen berücksichtigt werden. Dies ist jedoch individuell und abhängig von der spezifischen Situation und den Anforderungen des jeweiligen Berufs.
  • Private Krankenversicherungen: Bei einem Wechsel in eine private Krankenversicherung kann die Angabe einer psychotherapeutischen Behandlung Auswirkungen auf die Prämien oder die Annahmebedingungen haben.
  • Berufsunfähigkeitsversicherungen: Tatsächlich schließt die Versicherung psychische Erkrankungen meist aus, wenn eine Therapie innerhalb der letzten 5 Jahren in Anspruch genommen wurde oder ist kaum bezahlbar. 


Insgesamt hat eine Therapie über die Krankenkasse in der Regel keine direkten negativen Auswirkungen auf das Berufs- oder Privatleben. Die Vorteile einer Therapie, wie verbesserte psychische Gesundheit und Lebensqualität, überwiegen meist die potenziellen Nachteile. Es ist jedoch wichtig, sich über die spezifischen Umstände und Anforderungen Ihres Berufs und Ihrer Versicherung im Klaren zu sein und gegebenenfalls professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen, um fundierte Entscheidungen zu treffen.

Fazit

Diese Mythen und Missverständnisse können dazu führen, dass Menschen zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist wichtig, diese falschen Vorstellungen zu korrigieren, um den Zugang zu psychotherapeutischer Unterstützung zu erleichtern und das Stigma rund um psychische Gesundheit zu reduzieren. Therapie ist eine wertvolle Ressource für alle, die Unterstützung in schwierigen Lebenslagen oder bei der persönlichen Entwicklung suchen.